Kooperation Tuchmacher Museum Bramsche – Universität Osnabrück/Textiles Gestalten
Klein und fein liegen sie vor uns: Die Archivproben von Gunta Stölzl, Webermeisterin am Bauhaus. Befestigt auf grauen Pappen in Din A4, mit sauberer Bleistiftschrift mit Anmerkungen versehen, um Patronenzeichnungen und Einzüge ergänzt. Manchmal flüchtig, fast fragmentarisch, manchmal ausführlich mit Colorits und Variationen ergänzt. Das Universum und Vermächtnis einer Weberin mit Strahlkraft für die textile Welt. In Groningen, kurz hinter der niederländischen Grenze, liegt der Archivbestand ausgebreitet im Arbeitsraum der Stölzl-Tochter Monika Stadler. Gemeinsam mit der studentischen Mitarbeiterin Mirjam Deckers sichtet, inventarisiert und verwahrt Monika Stadler das textile und kulturelle Erbe ihrer Mutter. Jede Textilkennerin zieht der Anblick solcher Archivproben in den Bann. Assoziationen entstehen zum Experimentieren mit Materialien und Farbstellungen, zum Mustern und Sammeln, zur Weiterentwicklung und dem Verfeinern von Bindungen, dem Verändern durch Skalieren der Proportionen oder durch Details der Schussfolge – Ideen für Serien, Kollektionen und Abwandlungen.
Kerstin Schumann, Museumsleiterin am Tuchmacher Museum Bramsche sowie Annette Hülsenbeck und Lucia Schwalenberg von der Universität Osnabrück suchen die passenden Proben aus für die Ausstellung „Auf den zweiten Blick – Bauhaus-Stoffe als Inspiration“. In Kooperation mit dem Fachgebiet Textiles Gestalten der Universität Osnabrück würdigt das Museum zum 100jährigen Bauhaus-Jubliäum 2019 die Bauhausweberin mit dieser besonderen Ausstellung basierend auf Gunta Stölzls Musterarchiv.
Projekt Bauhaus Webwerkstatt im Textilen Gestalten der Universität Osnabrück
Ausgehend von ausgewählten Proben lassen sich die Studierenden im „Projekt Bauhaus-Webwerkstatt“ an der Universität Osnabrück inspirieren, arbeiten die Proben nach, interpretieren sie neu, passen sie den technischen Gegebenheiten des Jacquardwebstuhls im Museum an. Zum Einsatz im Webkurs im Lehramtsstudium Textiles Gestalten kommen neben unterschiedlichen Musterwebstühlen des Fachgebietes und dem restaurierten Lochkartenjacquard samt Kartenschlagmaschine vor allem der neu angeschaffte digitale Handjacquard-Webstuhl TC2, der die Umsetzung der Proben in der knappen Seminarzeit mit 14 Studierenden überhaupt erst möglich macht.
Während die Studierenden an den Proben arbeiten, begutachten und reparieren die Technikexperten Wolfgang Sternberg und Hans-Heinrich Schwalenberg im Tuchmacher Museum die Kartenschlagmaschine. Erstmals in der zwanzigjährigen Geschichte des Museums ist sie im Einsatz. Erstmals werden in dieser Ausstellung zu den vorhandenen drei historischen Kartenläufen selbst geschlagene Muster im Museum gewebt.
Jacquardkarten für die Ausstellung
Nach einer Schulung an der Kartenschlagmaschine stanzen die Museumstechniker Antonio Torres und Volker Leismann in hochkonzentrierter Arbeit die Entwürfe Gunta Stölzls und der Osnabrücker Studierenden in Jacquardpappen. Schussreihe für Schussreihe lesen die Beiden je 400 Positionen von der Patrone ab und übertragen die Bindungspunkte in Lochungen. Sie nähen die Kartenläufe am Nähbrett zusammen und hängen den Lauf in das Jacquardprisma ein. Für alle Beteiligten ein beglückender Moment, als die ersten Kartenläufe schließlich das richtige Musterbild ergeben, manchmal noch korrigiert werden müssen, manchmal auch auf Anhieb klappen.
Exklusive Wolldecken-Kollektion für den Museumsshop
Die Proben sind passend zum Thema Wolldecken ausgewählt. Wolldecken gehören zu den traditionellen Produkten der Tuchmacher, die in Bramsche über 400 Jahre gemeinschaftlich feine Wolltuche herstellten. Heute setzt das Museum die Produktion auf über 100 Jahre alten Maschinen am authentischen Standort fort und ist Bestanddteil der Route der Industriekultur.
Die aus den Stölzl-Proben entwickelten Wollstoffe sind exklusiv zur Ausstellungseröffnung im Museumsshop als Kollektion erhältlich. Ein neues Sortiment für das Museum. Eine neue Erfahrung auch für Besucher und Besucherinnen, die den Weg von der Inspirationsquelle, dem Entwurf, dem Kartenschlagen bis zum Weben und dem fertigen Produkt in einer anschaulichen Einheit nachvollziehen können. Ein Großteil der Wollgarne für die Produktion wird auf museumseigenen Maschinen, wie der Krempelmaschine und dem Selfaktor, hergestellt.
Das Tuchmacher Museum: Bramscher Rot für die Kollektion
Das Tuchmacher Museum Bramsche ist mit seinen historischen Gebäuden der Tuchmacher-Innung idyllisch am Flussufer der Hase gelegen. Insbesondere die als Uniformstoffe hergestellten Tuche im leuchtenden „Bramscher Rot“ machten die Tuchmachergilde berühmt. Den Farbstoff für den besonderen Rot-Ton gewann der Schönfärber der Gilde aus den Wurzeln der Krapppflanze.
Es liegt nahe, dass das Bramscher Rot im Kooperationsprojekt des Tuchmacher Museums und der Universität Osnabrück zu den Archivproben Gunta Stölzls eine Rolle spielt. Neben neutralen Tönen von weiß bis grau, enthält die Probenauswahl der Studierenden eine Palette an roten Entwürfen. Ein Teil der Entwürfe wird ergänzend zum Museumsjacquard an der Schaftmaschine des Museums auf einer roten Wollkette gewebt und nach dem Walken und Rauhen zu Wolldecken verarbeitet.
Für die Studierenden ist es motivierend, sich mit einer anspruchsvollen und konkreten Aufgabe zum 100jährigen Bauhaus-Jubiläum auseinanderzusetzen. Und das für das wenige Kilometer von Osnabrück entfernte Tuchmacher Museum, das die Studierenden aus Exkursionen und Projekten schätzen. Die Aussicht, die Entwürfe am Jacquardwebstuhl des Museums zu realisieren und die entstehenden Wolldecken im Museumsshop zu präsentieren, ist zusätzlicher Ansporn. In Gruppenarbeit konzentrieren sich die Studierenden bei der Entwicklung und Umsetzung der Archivproben von Gunta Stölzl auf diejenigen Entwürfe, die am Museumsjacquard technisch umsetzbar sind. Dies sind Entwürfe im Schussdouble für „Polka-Dots“ und einen handgezeichneten Entwurf Gunta Stölzls sowie die Umsetzung des Museumslogos in Form eines Weberschiffchens. Außerdem Gewebe in Flechtköper und Waffelbindung, die aufgrund der Fadendichten und Platinenzahl am Museumswebstuhl von 14 auf acht Schäfte adaptiert werden.
Werkstattarbeit am Bauhaus als pädagogische Grundlage
Die Lehramtsstudierenden im Textilen Gestalten setzen sich in diesem Projekt mit dem Thema Werkstattarbeit und ästhetische Erziehung in der Bauhaus-Pädagogik auseinander. Das Bauhaus steht als reformpädagogische Hochschulbewegung mit Strahlkraft weit über die deutschen Grenzen hinaus als Leuchtturm für fruchtbare pädagogische und gestalterische Arbeit in den Werkstätten als Grundlage einer fundierten Ausbildung der Studierenden.
Ein weiterer Bestandteil der Ausstellung im Tuchmacher Museum ist die Frage, wie Stoffe für Bekleidung im Bauhaus ausgesehen haben könnten. Bei der Sichtung der Musterkarten im Archiv Gunta Stölzls stieß die Textil- und Bekleidungswissenschaftlerin Annette Hülsenbeck auf überraschende Entdeckungen. Sie fand in einer Ausgabe der Vogue von 1929 Abbildungen sehr ähnlicher Stoffmuster für die Produktion von Kleidern.
Dies war der Ausgangspunkt, das Thema „Kleidung am Bauhaus“ für die Ausstellung weiter zu verfolgen. „Auf den zweiten Blick“ förderten die Recherchen von Annette Hülsenbeck Texte von Bauhäuslerinnen zum Thema Mode, Stoffe und Kleider zu Tage. Parallel griff eine Gruppe von Textil-Studierenden das Thema auf. Unter der Anleitung der Textilkünstlerin Hiltrud Schäfer und der Textildesignerin Corinna Boknecht entwickelten sie vom Bauhaus-Design inspirierte Kleiderentwürfe als Papiermodelle mit experimentellem Charakter.
Beteiligte Studierende: Canan Barcin, Julia Falke, Amelie Gieschler, Bilâl Enes Görmez, Elena Hardeenberg, Joana van der Kolk-Dölling, Karoline Meyer-Hollje, Laura Möller, Naina Reuter, Julia Schaller, Nesibe Türkaslan, Derya Tuztas, Betül Yeyet, Duygu Yildrim. (Bauhaus-Webwerkstatt)
Sümeyye Asci, Fabienne Becker, Pauline Becking, Alexander Büsing, Milena Czeczor, Johanna Erwardt, Julia Falke, Jelke Kristin Färber, Lena Feldkamp, Marie Fink, Tunc Güney, Elena Hardenbeg, Gesche Hillmann, Leonie Hof zum Berge, Carolin Jankowski, Büsra Karakaya, Büsra Kayatas, Marie-Theres Kempermann, Anna-Katharina Kestel, Merve Kocaoglu, Karoline Meyer-Hollje Lara Munsch, Gülnaz Mutlu, Sabrina Müller, Carmen Norda, Carolin Polaczyk, Josefine Porompka, Neeske Caecilia Luise Remy, Annette Sander, Julia Schaller, Rieke Scholle, Susanne Schweigel, Lara Spannhoff, Charlotte Tellmann, Zeynep Uygur, Lisa Verheyden, Anja Völlmer, Zaklina Vojvodic, Anna Wandscher, Betül Yeyit, Duygan Yildirim. (Bauhaus-Mode)
Beteiligte Lehrende: Dipl.Des. Lucia Schwalenberg (Bauhaus-Webwerkstatt), Dipl. Päd. Annette Hülsenbeck und Hiltrud Schäfer (Bauhaus-Mode)
Foto: Archivprobe Gunta Stölzl im Archiv der Stölzl-Tochter Monika Stadler, aufgenommen von Lucia SchwalenbergText: Kerstin Schumann/Lucia Schwalenberg
Hülsenbeck, Annette/Schumann, Kerstin/Schwalenberg, Lucia/Thörner, Ilka
Auf den zweiten Blick. Bauhaus-Stoffe als Inspiration
80 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen
Format 14,8 x 21 cm
Bramsche 2019
ISBN 978-3-89946-302-6